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DR KLAUS MUELLER

Exhibitions

DIE GEBURT DES HOMOSEXUELLEN AUS DEM GEIST DER AUTOBIOGRAPHIE, Schwules Museum Berlin 1992 [Curator]

Ausstellung Schwules Museum 1992 photo 3          Ausstellung Schwules Museum 1992 photo 2
Jede Epoche erfindet ihre Art des gleichgeschlechtlichen Begehrens. Das deutsche 19. Jahrhundert erzeugt den modernen Homosexuellen. Niemals zuvor und niemals danach offenbarten die Anhänger der Männerliebe so scham- und sorglos ihre Gefühle, Lieben und Leiden. Umarmt durch die medizinische Wissenschaft fertigten sie detaillierte Porträts der „namenlosen Liebe“ an. Geheime Treffpunkte, geheime Verlangen – die Beichten der Päderasten verlockten die Mediziner zu Expeditionen in das dunkle Reich menschlicher Leidenschaften.
Die Ausstellung im Schwulen Museum Berlin (Mar 22 – Aug 8, 1992) rekonstruiert die wissenschaftlichen Entdeckungsreisen und bringt die Konträrsexuellen erneut zum Sprechen. Deren ‚unerhörte Geständnisse klangen nicht nur damals wie medizinische Pornographie. Portraitpostkarte, medizinische Fotos und Instrumente, erotische Klassiker der gehobenen Art und antikisierende Gemälde profilieren die „homosexuelle Identität“ des 19. Jahrhundert.
Der Konzeption liegt das Buch von Klaus Müller: Aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut. Homosexuelle Autobiographien und medizinische Parthographien im 19. Jahrhundert (Verlag Rosa Winkel, Berlin 1991) zugrunde.
„Bei der Durchsicht der Bekenntnistexte, die vor allem in den neunziger Jahren massenhaft in der sexualpathologischen Fachliteratur publiziert wurden, stellt Müller fest, dass sich die Autoren fast durchweg von den Interpretationsmustern der Wissenschaft abzusetzen versuchten. Sie widersprachen in ihrer Mehrzahl gängigen Degenerationstheorien, lehnten das Konzept der Weiblichkeit für sich ab und wollten zumeist auch von einer Therapie nichts wissen.“ (Tilman Krause, Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.02.1992)

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Die Ausstellung war als Reise durch das 19. Jahrhundert in 13 Stationen angelegt:
1. Ärztlicher Beichtstuhl
2. Impressionen aus dem alltäglichen urnischen Leben des 19. Jahrhundert
3. “Was wir sind? – die Lüfte wissen’s, doch sie verschwei­gen’s auch. – Eine mit Talent.”!
4. Der Päderast und die Anusuntersuchung
5. Sexuelle Detailaufnahmen
6. Der sprechende Körper
7. Das ungleiche Paar: Der Arzt und sein perverser Patient
8. Die Entdeckung des Homosexuellen
9. Therapie?
10. Karl Heinrich Ulrichs
11. Aufforderung zur Mitarbeit
12. Das Gericht
13. Psychopathia sexualis

Aus einem Geständnis 1881:
“/…/ aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut, dass ich meinte, sie in meinem Zimmer zu hören: “Gehe nach den Linden!” –

Selten oder nie hatte ich die innere Promenade betreten; es war vor achtundvierzig und die Beleuchtung wohl nicht so glänzend wie heute. Ich ging unbewusst und hatte die Worte längst vergessen. – Nach einiger Zeit gesellte sich ein Herr zu mir; er sprach mir liebenswürdig zu, und wir gewannen den Thiergarten. Ich empfand ein wunderbar seliges Gefühl, als er mich an sich zog, mich leidenschaftlich küsste und endlich mich angriff und durch Onanie meine Natur befriedigte. – Jetzt aber bemächtigte sich meiner eine wahre Verzweiflung, ich weinte vor Schaam, als sich der Fremde verwundert zu mir wandte: “Was gebehrden Sie sich so? das thun ja Hunder­te!” Nie in meinem Leben habe ich je wieder, Gott vergebe es mir! ein so seliges Wort gehört, es war mir, als erwachte ich zu neuem Leben und ich wurde neu geboren! Der Fremde theilte mir Vieles mit/…/”. (Caspar/Liman 1881)

SKIZZE DISSERTATION
Der Aufbau einer neuen Sprache über (Homo)Sexualität Ende des 19.Jahrhunderts, die seit der Jahrhundertwende via trivial- und massenliterarischen Popularisierungen zur Alltagssprache generiert und als Ausdruck von ‘Erfahrung’ gehandelt wird, steht im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Die Untersuchung ist auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentriert: Der Diskurs über intime Männerbeziehungen wird hier erstmals als wissenschaftlicher Gegenstand etabliert, mit besonderer Konzentration auf die Aspekte Sexualität und Identität des ‘Homosexuellen’.
Wichtigster Referenzpunkt der neuen objektiven Sprache über Sexualität zwischen Männern stellen die Autobiographie, bzw. Bekenntnis und Tagebuch dar. Die autobiographischen Dokumente der mannmännlichen Liebhaber initiieren und prägen die psychiatrische und emanzipatorische Theoriebildung.
Die Umsetzung ‘medizinischer’ und ’emanzipatorischer’ Raster in ‘Lebenspraxis’ und umgekehrt: der Transfer von Lebensstilen in Textformen bezeichnet die zentrale Frage der Arbeit. In der Wechselwirkung der medizinischen und autobiographischen Rede profiliert sich die sexuelle Identität des ‘Homosexuellen’, die gleichermaßen repressiven wie emanzipatorischen Interessen angepaßt werden kann. Dem Diskurs über ‘Homosexualität’ fällt von Beginn an eine kompensatorische Funktion zu, in der zentrale Problembestände des 19.Jahrhunderts stellvertretend durchgespielt werden.
Die Untersuchung orientiert sich an der Foucaultschen Trilogie zur ‘Geschichte der Sexualität’. Die Studie präsentiert Material, das bisher – kaum zugänglich in Privatsammlungen – in der Wissenschafts- und Sozialgeschichte der ‘Sexualität’ ausgeblendet blieb.