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DR KLAUS MUELLER

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SPRACHREGELUNGEN. Die Codierung des Homosexuellen in der Sexualpathologie des 19. Jahrhunderts (1987)

‘Well, I knew all these stories about coming out, I myself tell them over and over again. I think we just have to invent new fictions.’

In einer Reihe jüngerer historischer Untersuchungen zur Geschichte der ‘Sexualität’ ist das späte 19.Jahrhundert, und dabei besonders die Sexualpathologie, als wichtiges Definitionsfeld des ‘Sexuellen’ analysiert worden. Mit der Sexualpathologie, die ab 1870 langsam an Gestalt gewann, etablierte sich erstmals eine wissenschaftliche Disziplin mit ‘Sexualität’ als zentralem Gegenstand.
Methodisch waren die Sexualpathologen einem positivistischen Wissenschaftsverständnis verpflichtet und entlehnten ihre Arbeitsweisen weitgehend der zeitgenössischen Medizin. Das Sammeln von Fallgeschichten, verstanden als Empirie, und sich ständig ausdifferenzierende Begriffsapparaturen, vorgestellt als Klassifikationen, wiesen das Interesse an ‘Sexualität’ als wissenschaftliches aus. Die Übernahme medizinischer Grundschemata wie die Scheidung des Normalen und Pathologischen und der klassischen Dreiteilung Ätiologie (Lehre von den Krankheitsursachen) – Symptomatik – Therapie verstärkte die Legitimation: Der Sexualpathologe sprach als Arzt. Zeitgenössische medizinische und psychiatrische Spekulationen (Phrenologie, die Degenerationstheorien von Morel und Magnan, Lombrosos kriminelle Anthropologie, Teratologie) trugen nachhaltig zur Ausbildung einer neuen Sprache über ‘Sexualität’ bei.

‘Sexualität’ wurde in der Sexualpathologie zunehmend als anthropologischer Schlüssel wie (geheimes) Zentrum sozialer Prozesse) gehandelt. Die wichtigsten Sexualitätskonzeptionen wurden zwischen 1870 und 1905 vorgestellt; ich beschränke mich hier auf die deutschsprachige Entwicklung der Sexualpathologie.

Ihr gelang in kürzester Zeit, wovon jede Wissenschaft träumt: Ihre Analysen, ihre Terminologie wanderten ab in die alltagssprachliche Rede und gehörten bald zum ‘common sense’. Die neuen sexuellen Termini erschienen weniger als Vokabeln einer spezialisierten wissenschaftlichen Disziplin denn Ausdruck von jedermanns ‘natürlicher Erfahrung’. Als Kategorien der Selbstverständigung und der Verständigung über die ‘Anderen’ leuchtete ‘Sexualität’ (und die Vielzahl der an sie gebundenen Termini ein).

Bis heute hat sich ein ‘common sense’ darüber, was ‘Sexualität’ ist, in Alltags- wie Wissenschaftssprache gehalten. Wie kaum einem anderen Thema gelingt es ‘Sexualität’ scheinbar noch immer, die seit dem 19.Jahrhundert verstärkte Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften bzw. von Wissenschaft, nicht wissenschaftlichen Diskursen und Alltagssprache zu unterlaufen und sich überall als scheinbar evidentes Objekt zu etablieren. ‘Sie’ objektiviert sich bei biologisch-physiologischen Meßprozeduren, unterliegt chemischen Reaktionstests wie polizeilichen Zensurmaßnahmen, zeigt ihr ‘wahres’ Bild in statistischen Erhebungen, literarischen Werken oder – wie manche fürchten, andere hoffen – der Pornographie. Um am Ende, in der Sprache, doch wieder als ein- und dasselbe Objekt aufzutauchen: ‘Sexualität’.

Zwar gibt es im 20.Jahrhundert auf verschiedenen Terrains Reduktions- bzw. Expansionskämpfe um das, was als ‘sexuell’ verstanden werden kann (gruppiert etwa um die Zensur, die Kunst, homosoziale Verbände, Koedukation, Freikörperkultur). Die Sexualisierung nicht sexueller Lebensbereiche setzte sich jedoch weitgehend durch.

In der Rede kann der Verweis auf ‘Sexualität’ unterschiedliche Aussagefunktionen einnehmen (als Enthüllung, Erklärung, Illustration, Ästhetisierung, Schlußwort, Intensivierung…). Die wissenschaftliche Diskursivierung der ‘Sexualität’ erscheint kaum noch als historisch in die Wissenschaftsgeschichte des 19.Jahrhunderts eingebundener ‘Text’. Unsere Sprache über ‘Sexualität’ partizipiert an ihrem Mythos als Naturphänomen, es stehen kaum Begriffe und Ausdrucksweisen zur Verfügung, in denen ‘Sexualität’ historisch verstanden wird.
Der Sex, auch jener zwischen Männern, hat keine eigene, sogenannt authentische Sprache. Die literarischen Beschreibungen der Männerliebe in diesem Jahrhundert entlehnten ihre Worte, Metaphern, Imaginationen in starkem Maße der Sprache der Pathologen. Die Codierung der ‘Sexualität’ innerhalb der Sexualpathologie Ende des 19.Jahrhunderts erweist sich noch immer als entscheidende Folie für unser Verständnis und unser Sprechen von (Homo-)Sexualität.

Im Folgenden möchte ich einige zentrale rhetorische Figuren beschreiben, in denen sich die wissenschaftliche Rede dem neuen Phänomen ‘Homosexualität’ näherte. Noch um 1850 herrschte die Scham über die Geringfügikeit des Gegenstands und die textuelle Aufmerksamkeit gegenüber diesem unerhörten Laster vor, nur mühsam aufgefangen durch medizinische Legitimationen. Die theoretische Geringschätzung schwand, als die pathologischen Sexualitäten als degenerative Phänomene gewertet wurden. Im Gefolge der Degeneration/Dekadenzdebatten um die Jahrhundertwende wuchsen der ‘namenlosen Liebe’ unterschiedlichste symbolische Bedeutungen zu, nicht nur in wissenschaftlichen ,sondern auch kulturellen Diskursen. Anhand von vier Autoren (Westphal, Krafft-Ebing, Hirschfeld, Freud) soll diese Entwicklung des Homosexuellen vom unbekannten Wesen zur signifikanten Figur skizziert werden. Der Artikel schließt mit Thesen zur Sexualpathologie als Fiktion und zum Verhältnis medizinischer und literarischer Fiktionen der ‘Homosexualität’.

DIE ‘ERFAHRUNG’ DER (HOMO)SEXUALITÄT IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN SEXUALPATHOLOGIE ZWISCHEN 1870 – 1905
In der sexualpathologischen Literatur, die sich zunächst zaghaft seit 1870 in einem Schnittfeld von (Gerichts)Medizin, (Gerichts)Psychiatrie und Psychopathologie konstituierte, schien die Rede über ‘Sexualität’, vermittelt an den Begriffen des ‘Triebes’, eines ‘autonomen sexuellen Sinnes’, eines ‘psychosexualen Zentrums’, auf eine ‘Erfahrung’ hinauszulaufen, in der sich das Subjekt weniger als Souverän denn Objekt der ‘Sexualität’ sah und auch nur bedingt Auskunft geben konnte über die Funktionsweisen und Einflußsphären des ‘Sexuellen’.
Im Zusammenhang mit den großen Dezentrierungen des Subjekts im 19.Jahrhundert – durch die politische Ökonomie, die Philosophie Nietzsches, die Sprachwissenschaft, Ethnologie, Psychoanalyse, die Literatur – bescherte scheinbar auch die ‘Sexualität’ dem Subjekt eine ‘Kränkung’.

Es sah sich in eine Geschichte (Ökonomie, Sprache, Kultur) gestellt, die nicht die ‘seine’ war und sich doch maßgeblich in den individuellen Lebensgeschichten durchsetzte. Es unterlag psychischen Mechanismen, unbewußten Motivationen, sozialen Abläufen und Denkmustern, die sich anscheinend schon auf der Ebene der Beschreibung ihrer Erfassung entzogen.
Die Unruhe der Sexualpathologen gegenüber einer ‘Sexualität’, der das Subjekt nicht mehr ‘Herr’ wurde, schrieb sich in vielen Formulierungen in ihre Texte ein. Sie reagierten darauf mit zwei ineinander greifenden Sicherungsstrategien:

1. Die ‘Wissenschaft von der Sexualität’ schuf sich einen Schutzraum, indem sie sich allein als Pathologie konstituierte. In der Wissenschaftsgeschichte des 19.Jahrhunderts spielte die Frage nach einer möglichen Scheidung des Pathologischen/Normalen allgemein eine wichtige Rolle, etwa bei der Konstitution wissenschaftlicher Disziplinen (Physiologie/Pathologie) oder der Bestimmung von Krankheit. Das Pathologische wurde dabei, folgte man den beiden führenden Theoretikern der Physiologie und Medizin des 19.Jahrhunderts, Auguste Comte und Claude Bernard, nicht länger als qualitative, sondern quantitative Abweichung vom Normalen definiert.

Die damit angenommene substantielle Identität des Normalen und Pathologischen und die Interpretation der Krankheit in den Kategorien des Mangels und des Übermaßes wurde von den Sexualpathologen, schon um ihre Existenz als Pathologen zu schützen, reserviert aufgenommen. Zwar fanden sich in den sexualpathologischen Standardwerken quantitative Meßmethoden ebenso wie Klassifikationsraster quantitativer Art (bei Krafft-Ebing etwa in der Opposition von fehlendem Geschlechtstrieb und krankhaft gesteigertem Geschlechtstrieb). Die sexuellen Perversionen jedoch, als zentrales Thema, wurden nicht auf einer Skala verzeichnet, sondern von Beginn an als das Andere projeziert. Auf Dauer erwies sich die Ausgrenzung ‘normaler Sexualität’ aus dem Interessenfeld des Pathologen als nicht haltbar. Bereits um die Jahrhundertwende stieß die Konstruktion einer Patholgie ohne Physiologie auf Kritik. Die Diskussion um die unsicheren Grenzen zwischen dem Normalen und dem Pathologischen der ‘Sexualität’ erwies sich dann auch, bis heute, als eine der zentralen Fragen einer auf Ordnung bedachten Sexualwissenschaft.

2. Die zweite Sicherungsstrategie schien wesentlich erfolgreicher, zumindest bei der noch heute bekannten Figur des ‘Homosexuellen’: die ‘Sexualität als Perversion’ wurde in in eine Identität eingeschlossen, die in allen Lebensäußerungen von dieser bestimmt wurde. Das ungestüme Interesse für den ‘Homosexuellen’, die immer subtielere Erfassung seiner ‘Art’ als Beweis seiner spezifischen Identität hingen mit dieser beruhigenden rhetorischen Eingrenzung zusammen. Mit der Figur des ‘Homosexuellen’ vollzog sich eine paradoxale Wendung gegenüber der ‘Sexualität’: die Dezentrierung des Subjekts gegenüber einer als übermächtig erfahrenen Sexualität wurde in den Aufbau von Identitäten verkehrt. Was als identitätsgefährend bzw. -zerstörend vorgestellt wurde, wirkte nun identitätsstiftend. Die deutschsprachige Sexualpathologie des späten 19.Jahrhunderts konzentrierte sich auf den Aufbau abgrenzbarer Identitäten und verstand deren Codierung als Decodierung der Perversen. “Der Homosexuelle des 19.Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität.”

ANLEIHEN: ANTIKE MEDIZIN/ ONANIE- UND PROSTITUTIONSDEBATTEN
Bei der Vermessung des sexuellen Menschen suggerierten die Sexualpathologen, sie hätten einen weißen Fleck auf der anthropologischen Landkarte entdeckt. Neu war jedoch weniger die Kenntnis möglicher sexueller Vorlieben und Rollen (die schon in der antiken Medizin und Literatur ausführlich beschrieben wurden und in Lexika und Enzyklopädien des 19.Jahrhunderts zitiert wurden) als vielmehr die systematischen Klassifikationen. Kurz: die Entwicklung einer scheinbar neutralen, systematischen, objektiven und damit öffentlich benutzbaren Sprache über ‘Sexualität’. Neben gelegentlichen Anleihen bei der antiken Medizin (die jedoch lange nicht allen Sexualpathologen, Gerichtsmedizinern und -psychiatern bekannt war) erbte die Sexualpathologie ihre Beschreibungsmuster vor allem von den vorangehenden Diskursen über Onanie und Prostitution.

Im späten 18.Jahrhundert/frühen 19.Jahrhundert produzierte der ‘heilige Krieg’ gegen die Onanie eine Flut von theologischen Traktaten, medizinischen Ratgebern und pädagogischen Erbauungsschriften. Tissots populärwissenschaftliche Schrift von 1760 ‘De l’onanisme, ou dissertation physique sur le maledies, produites par la masturbation’ bezeichnete hier den Beginn einer dann nicht mehr verstummenden Rede. Schon wenige Jahre später war er ins deutsche übersetzt. Die Onanie wurde zum ‘Anfang allen Lasters’ stilisiert, sie zeichnete die Verantwortung für die ‘Zerrüttungen des Körpers wie der Psyche’. Das Krankheitsbild der Onanie zeigte stark integrative bzw. totalisierende Züge, bei Tissot wie bei seinen Nachfolgern. Mangel oder Reizzustände aller Art (Eßunlust/perverser Appetit;Mangel an Libido/tägliche Pollutionen), Rückenschmerzen, Seh- und Hörstörungen gehörten ebenso dazu wie der Übergang in die schleichenden Krankheiten: Abmagerung , Gedächtnisverlust, Raserei, Blödsinnigkeit, völlige Erstarrung, dauerhaftes Fieber – und zum Schluß natürlich: der Tod. Der Klerus, die Pädagogenschaft, die Literaten wie die Mediziner partizipierten an dieser moralischen Phantasie. Man räumte der Onanie einen großen Platz in der Ätiologie ein. Die kindliche Sünde verriet erbliche Belastung und krankhafte Phantasie, letztere womöglich auch Folge der Überreizungen seitens der bekannten Verlockungen der Literatur. Das symbolträchtige Phänomen signalisierte nicht zuletzt kulturellen Niedergang, ein Topos, der wesentlich zum Erfolg des Onaniediskurses in so unterschiedlichen Textformen beitrug.

Die Debatte über Onanie stellte die erste breite populärwissenschaftliche Diskussion von ‘Sexualität’ und vor allem deren schädliche Folgen dar. In vielem bereitete sie die spätere sexualpathologische Rede vor. ‘Homosexualität’ übernahm dort den Platz der Onanie, die Lebensläufe der Onanisten wurden von den Fallgeschichten der Homosexuellen verdrängt.
Ein zweites Thema, bei dem ‘Sexualität’ schon im frühen 19.Jahrhundert auf systematisches Interesse stieß, war das der Prostitution. Das Interesse an der Prostitution als zu beschreibendem Phänomen hing mit der Entwicklung der großen Metropolen im 19.Jahrhundert zusammen; erst mit der Urbanisierung wurde sie massenhaft sichtbar. Paris, als Hauptstadt des 19.Jahrhunderts, kam dementsprechend schon früh als ‘Brutstätte der Sittenverderbnis’ ins Blickfeld. Berlin und Wien folgten. Vor allem in polizeilicher und gerichtlicher Perspektive illustrierte Prostitution schon früh ‘Sexualität als (mögliche) Störung des individuellen wie sozialen Lebens’.

DIE ENTWICKLUNG DES ‘HOMOSEXUELLEN’ VOM UNBEKANNTEN WESEN ZUR SIGNIFIKANTEN FIGUR
“Es ist das traurige Vorrecht der Medicin und speciell der Psychiatrie, dass sie beständig die Kehrseite des Lebens, menschliche Schwäche und Armseligkeit schauen muss. Vielleicht gewinnt sie einen Trost in dem schweren Beruf und entschädigt sie den Ethiker und Aesthetiker, indem sie auf krankhafte Bedingungen vielfach zurückführen vermag, was den ethischen und ästhetischen Sinn beleidigt.”

Ab 1870, mit dem Artikel des Berliner Nervenarztes Carl Friedrich Westphal über ‘Die conträre Sexualempfindung’ erschienen in verschiedenen Fachzeitschriften Aufsätze, mit denen das spätere Untersuchungsfeld der Sexualpathologie abgesteckt wurde bzw. das, was die Pathologen dann unter ‘Sexualität’ verstanden: Sexualität als ätiologisches Moment von Geisteskrankheiten, die hysterische Frau, das Verhältnis von sexus inferiore (weibliches Geschlecht) und sexus superiore (männlichem Geschlecht), die conträre Sexualempfindung, Transsexualismus oder entdeckte Fälle von Travestie. Die Aufsätze entstanden in bzw. zwischen den Disziplinen der Medizin, der Gerichtsmedizin, der Psychopathologie, der Psychiatrie, der Gerichtspsychiatrie, d.h. sie waren zunächst von verschiedenen Institutionen motiviert: der Klinik, dem Gericht, der Universität, dem Gefängnis, der Irrenanstalt.
Erst mit Krafft-Ebings ‘Psychopathia sexualis’ von 1886, dem Standardwerk der Sexualpathologie bis zur Jahrhundertwende und darüber hinaus, gewann diese dann ein eigenes Gesicht und eine Leserschaft, die weit über das eigentliche Fachpublikum hinausreichte.

Im Zentrum des medizinischen Interesses von Männern für Männer standen weniger die verschiedenen sexuellen Handlungen, als die Konstruktionen jeweils verschiedener sexueller Identitäten. Dem Perversen, nicht der Perversion galt die klassifikatorische Anstrengung. Medizinischer Ruhm heftete sich an seine ‘Entdeckung’ und die unvermeidliche ‘Taufe’. Lasèque erfand 1877 den Exhibitionisten, Binet 1887 den Fetichisten, Krafft-Ebing war gleich mit zwei Namensgebungen erfolgreich: dem Sadisten (nach dem Marquis de Sade) und dem Masochisten (nach dem österreichischen Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch). Der Nekrophile, die Nymphomanin, der Frotteur, der Pädophile, der Transvestit, der Geronotophile, der Voyeur, der Zoophile, der Flagellant und andere mehr wurden einer staunenden Öffentlichkeit als Wesen besonderer Art vorgestellt. Der ‘Homosexuelle’, als spektakulärste Figur der Sexualpathologie, wurde von vorneherein auf eine sehr besondere Art und Weise beschrieben: als Kranker (er ist Objekt der Medizin), als Patient (der Sexualpathologe spricht als Arzt/Autorität; man schreibt seine Krankengeschichte auf oder läßt sie von ihm selber schreiben); als sexuelle Identität (alle seine Lebensäußerungen gelten als potentielle Zeichen/Symptome seiner ‘Veranlagung’).

Der schon genannte Carl Friedrich Westphal galt in den Annalen der Sexualpathologie allgemein als der Entdecker des ‘Homosexuellen’. Westphal begann die medizinische Debatte der Männerliebe mit seinem berühmten Aufsatz über die ‘conträre Sexualempfindung'(1869). Er stellte dabei zwei längere Fallgeschichten vor. Bei der ‘Geburt des Homosexuellen’ standen mit den beiden Fallgeschichten kurioserweise ein Fräulein N., das “an einer Wuth, Frauen zu lieben” litt, und ein, nach heutiger sexualwissenschaftlicher Terminologie, ‘heterosexueller Transvestit’ Pate. Es sollte nicht das letzte Mal sein, daß die Rolle des ‘Homosexuellen’ anders besetzt wurde, als man gemeinhin erwarten sollte. Westphal integrierte das ‘so unbekannte Phänomen’ in die zeitgenössischen psychiatrischen Nosologien (=Krankheitslehren). Die Degenerationstheorien von Morel/Magnanfungierten als Folie einer ersten Kennzeichnung der conträren Sexualempfindung: moral insanity, hereditäre Belastung, Zustände der Depression und Exaltation. Die conträre Sexualempfindung wurde als Krankheit und damit Objekt der Medizin etabliert.
Bis zu Krafft-Ebings ‘Psychopathia sexualis’ war das Interesse der Psychiater/Pathologen gering. Man sammelte reizvolle Fallgeschichten, wußte aber dem Phänomen keinen anderen Rahmen als den eines gerichtsmedizinischen/-psychiatrischen Problems zu geben. Erst Krafft-Ebing gelang es, die perverse Sexualität zum schwergewichtigen und anfälligen Element individuellen wie sozialen Lebens aufzuwerten. In seinem Bild der virulenten, infektiösen und geheimnisvoll wirkenden ‘Sexualität’ war die humanistische und aufklärerische Frage nach möglicher Regulation schon enthalten. Wie war den Opfern zu helfen, wie konnten sie prophylaktisch verhindert werden?

Krafft-Ebing stützte sich auf Westphals Definition der Männerliebe als pathologisches Phänomen. Als ‘neuropathisches Zeichen degenerativer Belastung’ erfuhr die conträre Sexualempfindung bei ihm eine systematische Differenzierung (psychische Hermephrodisie, Homosexualität, Effeminatio, Androgynie) und wurde in zahllosen Fallgeschichten dokumentiert. Die Päderastie (bei Krafft-Ebing synonym für Analverkehr) wurde als Perversität (=Laster) von der conträren Sexualempfindung (=Krankheit) geschieden. Für letztere forderte Krafft-Ebing schon 1881 Straffreiheit und medizinische Behandlung, soweit möglich.

Der ‘Homosexuelle’ entwickelte sich in den zahlreichen Auflagen der Psychopathia sexualis (bis 1903: 12 Auflagen) schnell zur signifikanten Figur; eine Attrappe, bei der alle Zeichen die eine Geschichte erzählten. Das Bild des Homosexuellen rekrutierte sich vor allem aus drei Merkmalen, die sehr unterschiedlich belegt wurden: sexuelle Neigung zum eigenen Geschlecht, Verweiblichung bzw. Inversion der Geschlechterrollen, degenerative Belastung. Krafft-Ebing leistete Erkennungsarbeit. “Jeder Fall von wirklicher Homosexualität hat seine Aetiologie, seine begleitenden körperlichen und psychischen Merkmale, seine Rückwirkungen auf das ganze psychische Sein.” Die Sexualpatholgie definierte sich als synthetische Wissenschaft, der Homosexuelle setzte sich aus dem Ensemble der verräterischer Zeichen an ihm und in ihm zusammen.

So wie eine tendenziell unendliche Kette von Zeichen den ‘Homosexuellen’ profilierte, wurde er zum ‘Signal’für unterschiedlichste Prozesse: bei Krafft-Ebing für die zivilisatorischen Schäden der nervösen Moderne, die Naturferne des urbanisierten Menschen, die Auflösung traditionaler Wertbestände und nicht zuletzt die Verführungen der Literatur. Das heimliche Idealbild des ‘homo naturae’ leitete die Klage der Dekadenz. Krafft-Ebing, seit 1889 Leiter der psychiatrischen Klinik in Wien, gehörte damit zum Wiener fin de siècle und lieferte manche Vorlage für die literarischen Neurastheniker und fragilen todessüchtugen Frauen. Bis zur Jahrhundertwende etablierte sich der ‘Homosexuelle’ als Figur, mit der zu rechnen war und dessen Existenz die je unterschiedlichen Erklärungsmodellen eines Tarnowski, Mantegazza, Magnan, Raffelovich und Ellis voraussetzten. Im deutschsprachigen Raum waren es vor allem Sigmund Freud und Magnus Hirschfeld,die den ‘Homosexuellen’ im öffentlichen Bewußtsein verankerten.

Magnus Hirschfeld tradierte Krafft-Ebings Formel der ‘Homosexualität’ und unterstellte ‘sie’ als konstitutionelle Veranlagung und Basis einer spezifischen sexuellen Identität, des sogenannten ‘dritten Geschlechts’. Er versuchte, das ‘dritte Geschlecht’ als ‘natürliche Variante des Menschengeschlechts’ von seiner pathologischen und degenerativen Geschichte zu lösen.
Wie niemand vor ihm bediente er sich quantitativer Methoden (statistische Umfragen, Sammlung von Fallgeschichten), um die Existenz des ‘dritten Geschlechts’ zu dokumentieren.
Seine biologische Argumentation erwies sich im damaligen politischen Diskurs als akzeptabel und integrationsfähig und gehörte zu jenem Kanon naturwissenschaftlicher Modelle, die im ersten Drittel des 20.Jahrhunderts die Deutung soziokultureller Prozesse in starkem Maße leiteten. Die massenhafte Identifizierung der ‘Betroffenen’ mit der Figur des ‘zwischengeschlechtlichen Homosexuellen’ diente bei Hirschfeld als Voraussetzung ’emanzipatorischer Praxis’, die Identität von ‘Kopf bis Fuß’ wurde hier deutlich funktionalisiert.

Sigmund Freud gelang es mit den wenigen theoretischen (und dem Sprachgestus nicht anders als ‘salopp’ zu bezeichnenden) Äußerungen zur Homosexualität innerhalb seines Gesamtwerkes ein ganz anderes Projektionsfeld anzureißen. Nicht die Physiologie des ‘Homosexuellen’ formulierte hier die sicheren Zeichen seiner Erkennbarkeit, sondern die oft unbewußte Ebene der Imagination und projektiertenBeziehungswünsche. Die Folie der ‘Psychopathia sexualis’ gab auch hier die Erklärungsmuster vor:
– ‘Weiblichkeit’, als mittlerweile eingeübte Metapher sowohl der Ätiologie wie Symptomatik, kehrte in der These der ‘intensiven Mutterbindung’ und der ‘narzißtischen Bindung’ als Erklärungsmodell zurück.
– Freuds These der Kindheit als Zeitraum sexueller Prädispositionen war von der Onanieliteratur des späten 18.Jahrhunderts/ frühen 19.Jahrhunderts sowie den sexualpathologischen Degenerationstheorien insofernvorbereitet, als dort Masturbation als erstes und entscheidendes Zeichen degenerativer Veranlagung behauptet wurde. Kindheit erschien damit als wichtiges Aktionsfeld pädagogischer und medizinischer Interventionen. Die Interpretation der ‘Homosexualität’ als ‘Entwicklungshemmung oder -störung’ intensivierte diesen Ansatz und teilte die Setzung einer ‘biologischen Normalität’.
– Die Angst vor der ‘Konkurrenz mit dem Vater’ (im Kampf um die Mutter, die Frau) griff die schon bei Krafft-Ebing beliebte ‘Mutlosigkeit des Homosexuellen vor der Frau’ auf. Das ödipale Dreieck signalisierte vor allem ein Vergessen möglicher gleichgeschlechtlicher Beziehungen, erst nachträglich wurden männliche wie weibliche ‘Homosexualität’ als Störung hineingearbeitet.

SPRACHREGELUNGEN
1. DER TEINAHMSLOSE BLICK, DIE NEUTRALEN ZEICHEN
‘Sexualität’ wurde in der Sexualpathologie des 19.Jahrhunderts in einer historisch singulären Terminologie auf den Begriff gebracht. Das Wissen, in dem nicht nur erfolgreich Namen wie ‘Sadismus’, ‘Exhibitionismus’ oder ‘Homosexualität’ geprägt, sondern auch breit angelegte Assoziationsfelder (‘Nosographien’) angelegt wurden, fixierte ‘Sexualität’ als unveränderliches Produkt der Naturgeschichte, determiniert von biologischen Kausalnetzen bzw. zivilisatorischen Fehlentwicklungen. Die Sexualpathologen beharrten darauf, daß ihre umfangreiche Terminologie aus neutralen Zeichen bestand: Übersetzungen dessen, was sie ‘in der Natur vorfanden’.

Die Aufstellung immer differenzierterer Klassifikationsschemata erschien in dieser Perspektive nicht als Operation der Sexualpathologen, sondern ‘Verbesserung der Abbildung’. Die Beanspruchung der ‘Sexualität’ als Objekt der Natur und damit als Gegenstand der Naturwissenschaften nahm ihr die beunruhigenden ambivalenten, schwankenden, temporären Momente. Kurz: dem, was ihr als historischem Phänomen, als Produkt der Kultur und der Mode aneignet(e). Mit der neuen Terminologie verband sich eine Rhetorik der Distanz, die eine gesuchte teilnahmslose Sprache gewährleisten sollte. Noch vor der Psychoanalyse war breitflächig der Verdacht zu spüren, daß die Rede über ‘Sexualität’ von anderem getrieben wurde als dem vermeintlichen Sinnen auf Regulation. Die Sexualpathologen versuchten dem mit einer jede Beteiligung leugnenden Sprache zu entgehen. Allein die Moral duldete für einen Moment ein Empören über das, was beschrieben werden mußte. Ansonsten verschwand das Forscher-Subjekt hinter einer neutralen Sprache. Der Aufbau von Identitäten wirkte als Strategie der Distanzierung gegenüber dem Beschriebenen. Die Sexualpathologie mündete letztlich in einer florierenden ‘sexuellen Anthropologie’, die später durch psychoanalytische Ansätze wie Hirschfelds Theorie des ‘dritten Geschlechts’ kolportiert wurde. Die medizinisch-psychiatrische Diagnose umschloß den ‘Homosexuellen’ in einer zweifachen Bewegung: Seine Obsessionen und Perversionen bestimmten ihn als Subjekt und waren zugleich Indiz einer degenerativen Veranlagung/entwicklungshemmenden Prädisposition, durch die er als Objekt ausgewiesen war. Der Wechsel von der sexuellen Handlung zur sexuellen Identität, der sich mit der Konstruktion des ‘Homosexuellen’ in der Sexualpathologie vollzog, bedeutete letztlich auch, daß nicht der ‘Homosexuelle’, sondern allein der Arzt Auskunft geben konnte über die ‘Männerliebe als Homosexualität’. Die wissenschaftliche Rede etablierte sich als die einzig ‘wahre Rede’.

2. DER ANDERE
Der imaginierte Homosexuelle des 19.Jahrhunderts war in diskursive Funktionen eingebunden. Er bezeichnete wirkungsvoll das ‘Andere’, mit dessen Projektion sich ein Feld der Normalität überhaupt erst definieren ließ. Als bestimmbares Kennzeichen eines Individuums, einer sozialen Gruppe gehörte ‘Homosexualität’ zu den Grenzen, mit denen sich die bürgerliche Gesellschaft des 19.Jahrhunderts zu definieren suchte. Eine Reihe wissenschaftlicher Generaldebatten konnten im Diskussionsfeld der ‘Homosexualität’ angesiedelt werden (Natur/Kultur/Dekadenz; Verhältnis Anatomie/Biologie/Psychologie; Männlichkeit/Weiblichkeit; biologische Anthropologie als Basis einer Universalwissenschaft; Verhältnis Organismus/soziale Organisation). Vielfach übernahm der ‘Homosexuelle’ hier Pilotfunktionen, an ihm wurden der Wandel kultureller Normen ‘abgelesen’ und Reaktionen auf Normbrüche durchgespielt. Die Pathologisierung, als eine Reaktion, ermöglichte gleichermaßen eine sichere Distanz wie eine offensive Erfassung von Normabweichungen. Der Homosexuelle signalisierte eine polemische Grenze: wo für die einen das ‘Andere’ lauerte und die anderen das ‘Selbst’ aufhörte.

3. MEDIZINISCHE FIKTION
Dem Konstrukt der ‘Homosexualität als Identität’ kam in der neuen Ordnung, dem neuen Wissen über ‘Sexualität’ eine wichtige Funktion zu. Die wissenschaftliche Rede behauptete dabei ihre Einheit, indem sie vorgab, stets über dasselbe Objekt zu reden. Doch dieses vermeintliche Objekt erweist sich als medizinische Fiktion, wenn man die pathologischen Texte mit- und gegeneinander liest. Unter dem Wappen der ‘Homosexualität’ tauchten Gestalten auf, über deren Verbindungen und Ähnlichkeiten sich nur noch spekulieren läßt: der Feigling, der sexuell Überdrüssige, das fehlgeleitete Kind, der Virile und der Effiminierte, der Asexuelle, der Entartete, der Nervöse, der Bourgeois und der Künstler. Die Ätiologie war hier der treibende Faktor immer neuer Imaginationen.
Der in den sexualpathologischen Texten beschriebenen ‘Homosexualität’ mangelte es sichtlich an einem eindeutigen Textreferenten. Anders ausgedrückt: ‘Homosexualität’ bezeichnete einen diskursiven Raum, der durch die Gesamtheit der auf ‘Homosexualität’ referierenden Aussagen konstituiert war. Diese waren weit davon entfernt, sich auf ein einziges Objekt zu beziehen. Die Einheit der medizinischen Rede begründete sich nicht in ‘ihrem Objekt’, sondern ihrer eigenen rhetorischen Ordnung.

4. VERHÄLTNIS MEDIZINISCHER/LITERARISCHER FIKTIONEN
Die Sexualpathologie entwickelte historisch die theoretisch differenziertesten Konzepte der ‘Männerliebe als Homosexualität’, ihre Modelle sind zumindest im deutschsprachigen Raum singulär. Während die Männerliebe im französischen und englischen Symbolismus und Dandyismus außerhalb medizinischer Interpretationsstereotypen literarisiert wurde, fehlte eine vergleichbare deutsche Literatur, die andere denn medizinische Werte transportierte, fast völlig (Ausnahmen: August von Platen, Stefan George). Die literarische Modellierung des ‘Homosexuellen’ in der deutschen Literatur nach der Jahrhundertwende und in den zwanziger Jahren folgte oftmals den pathologischen Definitionen, die medizinischen Fiktionen leiteten die literarischen. Die Redundanz der literarischen Thematisierung der Männerliebe in diesem Zeitraum scheint mir unter anderem darin begründet. Unter der Sprache der Liebe, den Figuren der Leidenschaft und den bekannten Tragödien erschien als konstituierender Text der des verwissenschaftlichten Sexes. An der literarischen Gestaltung der Männerliebe haftete die Logik der medizinischen Fallgeschichte.

AUSBLICK…
Nicht zuletzt durch historische Analysen jener ‘Geburt des Homosexuellen aus dem Schoße der Sexualpathologie’ ist es in den letzten Jahren vor allem innerhalb der Soziologie und Geschichtswissenschaft zu einer methodischen Neuorientierung gegenüber dem Phänomen (Homo)Sexualität gekommen. Vor allem Michel Foucault und Jeffrey Weeks haben auf die Geschichtsträchtigkeit dessen, was wir gemeinhin unter ‘Sexualität’ verstehen, hingewiesen. Dennoch, so kann man konstatieren, gehen die meisten Untersuchungen weiterhin (stillschweigend) von einer ‘essentiellen Betrachtungsweise’ der Sexualität aus. In den Worten von Jeffrey Weeks wird Sexualität dabei verstanden als “/… overpowering force in the individual that shapes not only the personal but the social life as well. It is seen as a driving, instinctual force, whose characteristics are built into the biology of the human animal which shapes human institutions and whose will must force its way out, either in the form of direct sexual expression or, if blocked, in the form of perversions and neuroses.”
Gegenüber einer solchen, deutlich in Tradition zu den biologischen Modellen Ende des 19.Jahrhunderts stehenden Auffassung, beschreiben Foucault und Weeks ‘Homosexualität’ als spezifisch historische und westliche Einfassung männlicher Beziehungsformen. Weder die griechische Knabenliebe noch zeitgenössische Männerbeziehungen in anderen Kulturkreisen entsprechen der Typologie der modernen Homosexualität, so die sogenannte ‘konstruktivistische Position’. Für die ‘Männerliebe als Homosexualität’ ist dabei kennzeichnend, daß eine negative pathologische Identifizierung und eine emanzipatorische Selbstbestimmung untrennbar miteinander verbunden waren. Unter dem Topos ‘Homosexualität als Identität’ produzierten nicht allein Ärzte, sondern auch ‘Homosexuelle’ bzw. beide in einer Person eine Vielzahl von Identitätszuschreibungen. “The striking feature of the history of homosexuality over the past hundred years or so is that the oppressive definition and the defensive identities and strucures have marched together.”

Auch in der Literaturwissenschaft dominieren essentialistische Ansätze, in denen das Untersuchungsinteresse (Literarisierungen der ‘Homosexualität’) die Liebe unter Männern als evidentes, konstantes Phänomen unterstellt und damit aus sehr unterschiedlichen kulturellen und geschichtlichen Kontexten löst. Mit dem basalen Schema Unterdrückung/Emanzipation, das vielfach der Interpretation literarischer Texte mit homosexueller Thematik zugrundegelegt wird, wird der Text nach ‘authentischen Spuren’ abgesucht: Spuren wessen und von wem? ‘Homosexualität’, ‘Geschlecht’, ‘Trieb’ u.a. tauchen als scheinbar unproblematische Begriffe in einer Analyse auf, die sich gerade auf die sprachliche Verarbeitung (im speziellen Fall: die literarische Verarbeitung) gleichgeschlechtlicher Männerbeziehungen richten will. Wenn in soziohistorischen Analysen (Homo)Sexualität als Code ausgewiesen wird, müßte sich die Literaturwissenschaft, als Textwissenschaft, m.A. gerade auf eine Dekonstruktion der Codes richten. Es kann nicht darum gehen, sich mittels literarischer Texte einer Identität versichern zu wollen – als wäre in der Literatur jener kritische Gegendiskurs zu der medizinischen Geschichte einer Konstruktion namens ‘Homosexualität’ gespeichert. Die literarischen Bestände des frühen 20.Jahrhunderts scheinen mir weniger ungeahnte Identitätsentwürfe bereit zu halten als mehr geschmackvolle Erkennungsarbeit zu leisten und vielfach zur Ästhetisierung jener traurigen, medizinischen Entdeckungen beizutragen, vor denen schon Krafft-Ebing am liebsten die Augen geschlossen hätte. Er tat es nicht: ein Grund für die Stereotypie des Diskurses über ‘Homosexualität’, die Ludwig Thoma parodiert in der Frage ‘Homo oder Hetero?’:

“Diese Frage liegt nun so
Homo oder Hetero?
Ist er liebenswert und nett?
Taugt er was im Ehebett
Oder leistet er es nicht?
Alles kommt nun vor Gericht
Wo gesprochen werden muß
Von den Genitalibus.
Int’ressant! Int’ressant!
Alle Damen sind gespannt
In dem Auditorio
Homo oder Hetero?

BIBLIOGRAPHICAL REFERENCE ARTICLE
Klaus Mueller: Sprachregelungen. Die Codierung des ‘Homosexuellen’ in der Sexualpathologie des 19.Jahrhundert. In: Forum: Homosexualität und Literatur. University of Siegen 1987.