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DR KLAUS MUELLER

Publications

JOHANN LUDWIG CASPER (Homosexualität Handbuch 1993)

JOHANN LUDWIG CASPER (1796-1864)

LEBEN
Johann Ludwig Casper wurde am 11. März 1796 in Breslau geboren und kam nach einer Ausbildung als Apotheker zur Medizin: 1819 Doktor in Halle, 1924 Habilitation. 1825 wurde er zum Professor.extraord. in Brandenburg ernannt, 1839 zum ordentlichen Professor. Seit 1841 war er gerichtlicher Physikus der Stadt Berlin. Er starb am 24. Februar 1864 in seiner Geburtsstadt.

Ideen: Bis Mitte des 19. Jh.s berief sich die Gerichtsmedizin bei der Untersuchung der Päderastie auf die “Quaestiones medico-legales” (Rom/Amsterdam 1621-1635) von Paolo Zacchias (1584-1659). Zacchias hatte in seinem Standardwerk der Gerichtsmedizin die Anusuntersuchung des passiven Päderasten als forensisches Verfahren vorgestellt. Die Mechanik des Aktes und seine angeblichen Spuren: Risse, Entzündungen, Dehnungen des Afters, Beseitigung der natürlichen Falten des Afters um den Anus durch das ‘unermüdliche Reiben des Gliedes’, Feigwarzen, Wucherungen, Juckreiz sollten die Tat bezeugen. Die beteiligten Subjekte wurden außer durch ihren Altersunterschied – der ‘Geschändete’ wurde durchweg als Knabe angenommen – nicht weiter spezifiert. Mitte des 19. Jh.s führte Caspers Anspruch auf ‘Empirizität’ zu einer methodischen Neuorientierung, in der nicht mehr die Autorität der Überlieferung, sondern die ‘eigene Naturbeobachtung’ zählte.

Gestützt auf 11 Fälle reduzierte Casper 1852 die ‘pure abgeschriebenen’ medizinischen Spekulationen über die passive Päderastie auf zwei diagnostische Zeichen: die “dutenförmige Einsenkung der nates nach dem After zu” und die “faltenlose Beschaffenheit der Haut in der Umgegend des anus” (Casper 1852: 78). Bei seiner scharfen Kritik der medizinischen Tradition (Zacchias, Alberti, Henke) stützte er sich auch auf die polizeilich beschlagnahmten Tagebücher eines Päderasten, der unter dem Pseudonym ‘Cajus’ in die Annalen nicht nur der Gerichtsmedizin einging. Durch die Lektüre der Tagebücher verlagerte sich bei Casper das diagnostische Interesse von der Tat zum Täter. Die verrufene Handlung wurde erstmals als Folge einer konstitutionellen Veranlagung betrachtet. “Die geschlechtliche Hinneigung von Mann zu Mann ist bei vielen Unglücklichen – ich vermuthe aber bei der Minderzahl – angeboren, während sie bei vielen andern Männern erst im spätern Leben, als Folge einer Uebersättigung im gewöhnlichen Dienste der Venus, auftaucht.” (Casper 1852: 62) Diese ‘merkwürdige psychologische Seite’ ging nach Casper mit einem auffallenden ‘weibischen Auesseren’ zusammen, ohne daß letzteres zum sicheren diagnostischen Merkmal aufgewertet wurde. Für Casper blieb die Anusuntersuchung in ihrer reduzierten Form das einzig verläßliche Diagnoseverfahren vor Gericht. Sie wurde in ihrem Wert relativiert, weil Casper Päderastie nicht mehr mit analer Penetration gleichsetzte. “/…/ dass diese ekelhaften Vermischungen von Mann mit Mann gar nicht in allen Fällen so rein mechanisch geschehen, dass vielmehr die Afteröffnung nicht selten dabei ganz unbetheiligt bleiben dürfte, und dass bei nicht wenigen die unerklärliche geschlechtliche Verirrung sich in den Gränzen eines gewissen Platonismus erhält/…/” (Casper 1852: 76)

In seinem ‘Practischen Handbuch der gerichtlichen Medicin’ (1858) wurde diese Einschätzung des ‘Lasters’, unter Bezug auf eine ihm nach seinem Aufsatz von 1852 anonym zugeschickte Autobiographie, verstärkt. “Bei den meisten, die ihm ergeben sind, ist es angeboren und gleichsam wie eine geistige Zwitterbildung.” (Casper 1858: 174). Die Hinweise auf die Feminität des passiven Päderasten wurden mit Beispielen aus der antiken Literatur gestützt. Casper konstatierte die Kluft zwischen der unsicheren ärztlichen Diagnose und dem ‘päderastischen’ Erkennungssystem, wenn er aus der zugesandten Autobiographie eines Päderasten zitierte: “‘Wir finden uns gleich’, sagt der oben erwähnte Schreiber, ‘es ist kaum ein Blick des Auges, und hat mich bei einiger Vorsicht noch nie getäuscht. Auf dem Rigi, in Palermo, im Louvre, in Hochschottland, in Petersburg, bei der Landung in Barcellona fand ich Leute, die ich nie gesehen und die ich in einer Secunde erkannte’ u.s.w.!! Aber diese subjective Diagnose existirt nicht für den Richter und Arzt.” (Casper 1858: 174/5). 1863 veröffentlichte Casper dieses Selbstbekenntnis in den ‘Klinischen Novellen zur gerichtlichen Medicin’. Das historisch singuläre Bekenntnis stand am Beginn der zahlreichen autobiographischen Bekenntnisse, die ab 1870 in der Sexualpathologie veröffentlicht wurden.

Der Pariser Gerichtsmediziner Ambroise Tardieu (1818-1879) kritisierte Casper scharf wegen dessen Thesen von dem ‘gewissen Platonismus’ päderastischer Beziehungen und dessen Kritik der Anusuntersuchung. In seinem Werk ‘Étude médico-légale sur les attentats aux moeurs’ (Paris 1857) berief sich Tardieu auf mehr als 200 Untersuchungen und hielt an den sichtbaren Spuren der passiven Päderastie fest. Auch betonte er als Erkennungszeichen die ‘spitzzulaufende, hundeähnliche Rute des aktiven Päderasten’. Die Ausweitung der Analyseverfahren auf die ‘Rute’ des aktiven Päderasten wurde bereits bei Mende (Mende, L.J.K: Ausführliches Handbuch der gerichtlichen Medizin. Leipzig, 6 Bd.e, 1819/1832) formuliert. Nach dem Tode Caspers wurde die Auseinandersetzung Casper/Tardieu von seinem Neffen Carl Liman (1818-1891) in den Neuauflagen des Casper’schen Handbuchs mit Schärfe fortgeführt.

WÜRDIGUNG
Casper reduzierte durch seine ’empirische’ Kritik den diagnostischen Wert der Anusuntersuchung. Seine Kritik bewirkte die schwindende Autorität der Gerichtsmediziner als ‘Sachverständige’ der Päderastie. Die These der “geistigen Zwitterbildung” wurde in der Formel von Karl Heinrich Ulrichs (‘Anima muliebris virili corpore inclusa’) zum bedeutendsten Konzept der Männerliebe des 19. Jh.s ausgearbeitet: Die gleichgeschlechtliche Liebe wurde mit der Verkehrung der Geschlechtsidentität erklärt. Die Sexualpathologie des späten 19. Jh.s berief sich auf Casper wie Ulrichs. Die Veröffentlichung ‘päderastischer Bekenntnisse’ leitete eine radikale Veränderung im Denken über die Männerliebe ein. Autobiographische Zeugnisse wurden zukünftig zum unerläßlichen ’empirischen’ Bezugspunkt sexualpathologischer und emanzipatorischer Theorien der ‘Homosexualität’.

PRIMÄRLITERATUR
Casper, Johann Ludwig: Ueber Notzucht und Päderastie und deren Ermittelung seitens des Gerichtsarztes. In: Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin, 1. Berlin 1852. -Practisches Handbuch der gerichtlichen Medicin. Biologischer Theil. Berlin, August Hirschwald 1858. (Bd. 2, Berlin 1858) -Klinische Novellen. Berlin 1863. – Handbuch der gerichtlichen Medicin. Siebente Auflage. Neubearbeitet und vermehrt von Dr. Carl Liman. Berlin, August Hirschwald 1881. (8. Aufl. 1889; 9. Aufl. 1905 / Hg. v. A. Schmidtmann) Sekundärliteratur: Klaus Müller: Aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut. Medizinische Pathographien und homosexuelle Autobiographien im 19. Jahrhundert. Berlin, Rosa Winkel 1991.

BIOGRAPHICAL REFERENCE ARTICLES
Klaus Mueller: Johann Ludwig Casper. In: Homosexualiät. Handbuch der Theorien und Forschungsgeschichte. Hg. von Ruediger Lautmann. Frankfurt am Main, Campus 1993. [Manual: Theories and Research on the History of Homosexuality.]