kmlink

DR KLAUS MUELLER

Publications

Die HISTORISCHE KONSTRUKTION des Homosexuellen (1998)

Die historische Konstruktion des Homosexuellen und die Codierung der Geschlechterdifferenz

VORBEMERKUNG: Die folgende Analyse ist zu einem großen Teil meiner Arbeit “Aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut. Homosexuelle Autobiographien und medizinische Pathographien im 19. Jahrhundert” (Berlin, Rosa Winkel Verlag 1991) entlehnt, insbesondere den Schlußbemerkungen. Die Arbeit setzt sich mit der ‘Geburt des Homosexuellen’ aus dem Geist der sexualpathologischen Fachliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts und damit dem Beginn einer Verwissenschaftlichung von Sexualität und Geschlecht auseinander. Im Zentrum der Arbeit steht der Sexualitäts-, nicht der Geschlechterdiskurs. In der in diesem Band abgedruckten Podiumsdiskussion führe ich aus, daß der ‘Codierung der Geschlechter in der Moderne’ die Codierung der sexuellen Identität in der Moderne (Homosexualität, Heterosexualität) nicht subsumiert werden kann. Beide Diskurse bestimmen das ‘Geschlecht der Moderne’: Der ‘drohenden Feminisierung der Moderne’ korrespondiert historisch die Rede von der ‘drohenden Pervertierung der Moderne’. Der Geschlechterdiskurs beruht auf der Konstruktion der Homosexualität als nicht-essentiell, als ‘Außen’ einer biologisch verstandenen Männlichkeit/Weiblichkeit. Erst eine Analyse der Wechselwirkungen/Konfrontationen zwischen der sozialen Konstruktion von Geschlechtlichkeit und von sexuellen Identität ermöglicht eine nähere Bestimmung des Geschlechts der Moderne.

IDENTITÄT UND IDENTIFIZIERUNG IN DER SEXUALPATHOLOGIE DES 19. JAHRHUNDERTS
Der unterschiedslosen Verdammung der Unzucht in all ihren Formen machte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – mit der Problematisierung des masturbierenden Kindes – eine andere Haltung Platz: Was moralisch ausgegrenzt wurde, unterlag zunehmend einer minutiösen und intensiven Beschreibung. Bezeichnenderweise war dieses Interesse zunächst auf die ‘negativen’ Erscheinungsformen der Sexualität begrenzt: die Abirrungen, die Sünden des Fleisches, die verbotenen Lüste. Das 19. Jahrhundert erscheint hier gleichermaßen ‘modern’ wie ‘mythische Vorzeit’. So nachdrücklich die neuen wissenschaftlichen Termini das alltägliche Sexualverständnis im 20. Jahrhundert prägen sollten, so fern scheint das damalige naive Staunen der Sexualwissenschaftler und der neugierigen Öffentlichkeit über ihre ‘Entdeckungen’. Der breite gesellschaftliche Diskurs über das masturbierende Kind in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, frühe Untersuchungen zur Prostitution in den sich formierenden Metropolen des frühen 19. Jahrhunderts und vor allem die Gerichtsmedizin Mitte des 19. Jahrhunderts thematisieren ‘Sexualität’ bereits nicht nur innerhalb moraltheologischer Kategorien.

Doch erst die sich ab 1870 mit Carl Westphal und vor allem mit Richard von Krafft-Ebing im Schnittfeld von forensischen Medizin, von Psychopathologie and von Medizin etablierende neue Disziplin der Sexualpathologie leitet die Verwissenschaftlichung der Sexualität ein. Erstmals formiert sich eine wissenschaftliche Disziplin mit ‘Sexualität’ als zentralem Gegenstand, die sich allerdings bis zur Jahrhundertwende nahezu ausschließlich auf die Ätiologie der durch die Sexualpathologen gerade erst entdeckten und benannten sexuellen ‘Perversionen’ beschränkt. Erst nach der Jahrhundertwende weitet sich die sexualpathologische Literatur zur allgemeinen Sexualwissenschaft.

Methodisch waren die Sexualpathologen einem positivistischen Wissenschaftsverständnis verpflichtet und entlehnten ihre Arbeitsweisen weitgehend der zeitgenössischen Medizin. Das Sammeln von Fallgeschichten, verstanden als Empirie, und sich ständig ausdifferenzierende Begriffsapparaturen, vorgestellt als Klassifikationen, wiesen das Interesse an ‘Sexualität’ als wissenschaftliches aus. Durch die Adaption medizinischer Grundschemata und die Integration zeitgenössischer medizinischer Spekulationen entwickelte sich schnell eine eigenständige Terminologie über ‘Sexualität’. Die anfängliche Scham über die Geringfügigkeit des Gegenstands bzw. dessen zweifelhaften moralischen Status machte einer Aufwertung der ‘Sexualität’ zum anthropologischen Schlüssel (individuellen wie kollektiven Handelns) Platz.

Bis zur Jahrhundertwende hatte sich die Wissenschaft von der Sexualität als Selbstverständlichkeit etabliert. Ein solcher Siegeszug trotz aller Befürchtungen über die Folgen des neuen Sprechens über Sexualität beruhte nicht zuletzt auf dem Einsatz der ‘Betroffenen’ selbst. Ihrer Aussagefreudigkeit verdankten die Mediziner ihr Wissen um das ehemals so unbekannte perverse Leben. Ihre Autobiographien und Bekenntnisse trieben die Klassifikationen voran und formulierten den positivistischen Sammlern die Fragen. Auch wenn die Wissenschaft das Alleinrecht für die öffentliche Diskussion der (abweichenden) Sexualitäten besaß, war sie bei ihrer Erforschung des ‘sexuellen Menschen’ von dessen Kooperation abhängig.

In der Sexualpathologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden ‘erotische Männerbeziehungen’ zum zentralen Objekt einer medizinisch-moralischen Sorge. Doch nicht nur die Mediziner nehmen an diesem Diskurs teil, sondern auch die Betroffenen selber, die ihre Leidenschaften mit einem emanzipatorischen Selbstbewußtsein vortragen und beschreiben. Der Diskurs über intime Männerbeziehungen wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals als wissenschaftlicher Gegenstand etabliert, mit besonderer Konzentration auf die Aspekte Sexualität und Identität des verkehrten Liebhabers.

Dessen Gestalt wird in drei Typen ausgearbeitet: dem Päderasten der Gerichtsmedizin (mit einer kargen, aber langen Tradition zurück ins 17. Jahrhundert bzw. die Antike); dem Homosexuellen der medizinischen Sexualpathologie und dem Urning als emanzipatorischem Identifikationsangebot, entwickelt von Karl Heinrich Ulrichs. Ulrichs ‘Zwölf Schriften über das Rätsel der mannmännlichen Liebe’ (1864-1879) prägten nachhaltig den ansetzenden Sexualitätsdiskurs in der Sexualpathologie. Mit der Figur des ‘Urnings’ entwarf Ulrichs eine komplexe ‘sexuelle Identität’, die der des späteren ‘Homosexuellen’ vorausging. Seine berühmte Formel von der ‘weiblichen Seele in einem männlichen Körper’ nahm ein dominantes Erklärungsmuster der ‘Homosexualität’ vorweg: der Uranismus wurde mit einer Verkehrung der Geschlechterrollen erklärt.

Ulrichs einzigartiges Werk lieferte den mannmännlichen Liebhabern nicht nur ein neues individuelles wie kollektives Selbstverständnis, in dem ihre sexuellen Neigungen zur urningschen Identität zusammenwuchsen. Seine Theorie einer ‘sexuellen Identität’ wurde von allen Sexualpathologen rezipiert und in modifizierter Weise übernommen. Ulrichs kann mit Recht als Grundleger des modernen Sexualitätsdiskurses gelten, in dem Sexualität als Ausdruck von Identität begriffen wird. Seine Konstruktion eines ‘dritten Geschlechts’ zeigt zugleich die Verhaftung des Sexualitätsdiskurses in einem biologisch determinierten Geschlechtsdualismus: Mann oder Frau. Die Bestimmung des ‘Urnings’ und später des ‘Homosexuellen’ kam damit immer auch eine ‘Stellvertreterfunktion’ zu, an der zentrale Problembereiche des Geschlechterdiskurses durchgespielt werden konnten. Die Feminität des ‘Homosexuellen’ war eine negativ codierte Weiblichkeit, die mann auch bei Frauen beklagte; seine mangelnde Männlichkeit fungierte als Negativ-Spiegel für eine dominante, natürliche uns staatstragende Männlichkeit.

Das ‘Typenporträt des Homosexuellen’, das die sexualpathologischen und emanzipatorischen Texte im 19. Jahrhundert erstellen, ist jedoch nur partiell ableitbar von deren medizinischen bzw. politischen Grundanschauungen. Wichtigster Referenzpunkt der neuen objektiven Sprache über Intimität/Sexualität zwischen Männern stellt das Genre subjektiven Ausdrucks per definitionem dar: die Autobiographie bzw. das Bekenntnis und das Tagebuch. Die zahlreichen autobiographischen Dokumente der mannmännlichen Liebhaber in der sexualpathologischen Fachliteratur initiieren und prägen die psychiatrische und emanzipatorische Theoriebildung. Schon in den Anfängen des emanzipatorischen und medizinischen Interesses für ‘Sexualität’ ist deutlich, daß die autobiographischen Zeugnisse nicht als bloße Illustrationen dienten, sondern oftmals die Theoriebildung sowohl initiierten wie strukturierten. Die ‘Psychopathia sexualis’ von Richard v. Krafft-Ebing fungierte ab 1886 wohl als das wichtigste Forum der Veröffentlichung autobiographischer Bekenntnisse.

Die überraschend vielfältigen Ego-Dokumente der medizinischen wie emanzipatorischen Theoriebildung über die ‘conträre Sexualempfindung’ müssen als selbständiges Genre analysiert werden. In den Autobiographien spiegelt sich (verzerrt) die soziale Realität der männlichen Liebhaber. Ihrer Veröffentlichung kommt eine Modellfunktion bei der Bestimmung und Ausprägung der ‘homosexuellen Identität’ und Alltagskultur zu.

Die Umsetzung ‘medizinischer’ Raster in ‘Lebenspraxis’ und umgekehrt: der Transfer von Lebensstilen in Textformen bezeichnet die zentrale Frage des Homosexualitätsdiskurses. In der Wechselwirkung der medizinischen und autobiographischen Rede profiliert sich die sexuelle Identität des ‘Homosexuellen’, die gleichermaßen repressiven wie emanzipatorischen Interessen angepaßt werden kann. Dem Diskurs über ‘Homosexualität’ fällt dabei von Beginn an eine kompensatorische Funktion zu, in der zentrale Problembestände des 19. Jahrhunderts durchgespielt werden.

Das ‘Wissen über Sexualität’ im 19. Jahrhundert war von Beginn an als technisches Wissen konzipiert, das auf die Neu-Ordnung einer Praxis zielte. Die Kopplung von Emanzipation und Repression, von Identitätsbildung und Identifizierung, von Fiktion und Erfahrung resultierte in einer Zirkelbewegung, die nicht nur die Kontrahenten (scheinbar, real) miteinander vereinte, sondern ihre Positionen in einer Ambivalenz festhielt, die nicht aufzulösen ist. Im folgenden möchte ich dieser Ambivalenz nachgehen, die sich aus der Wechselwirkung zwischen den sexualpathologischen Klassifikationen und den autobiographischen Bekenntnissen in der sexualpathologischen und emanzipatorischen Literatur des 19. Jahrhunderts für die Konstruktion der modernen homosexuellen Identität wie für den Sexualitätsbegriff der Moderne ergeben.

DAS 19.JAHRHUNDERT ALS EXPERIMENTIERPHASE
Der Diskurs über intime Männerbeziehungen im 19.Jahrhundert weist sicherlich groteske und im individuellen Einzelfall auch bedrohliche Züge auf. Dennoch wird die Kommunikation zwischen Pathologen und Autobiographen noch nachhaltig durch ihren experimentellen Charakter geprägt: Positionen können revidiert werden, die Machtverhältnisse sind nicht eindeutig geklärt, die beidseitige Neugier verdrängt die Frage, wie man das neue sexuelle Wissen einsetzen will. Die medizinischen Spekulationen über die Ätiologie und die autobiographischen Reflektionen der vita sexualis, der ‘Symptome’, zeigen sich zunächst eigentümlich desinteressiert an der Ausarbeitung einer möglichen Therapie, ob diese sich nun auf die ‘Natur’ oder die ‘Gesellschaft’ richten soll.

Sowohl dem quantitativen Textanteil wie der Reichweite der Phantasie nach orientieren sich die Überlegungen über die Umsetzung des neuen sexuellen Wissens an Restbeständen alter diskursiver Schablonen, etwa der Thematisierung von ‘Sexualität’ in forensischer Perspektive. In dem autobiographischen Verlangen nach dem Aufbau einer Identität und dem medizinischen Interesse an der Identifizierung abweichender Subjekte überwiegt die Faszination des Faktischen: Die ‘namenlose Liebe’ erhält zunächst viele, dann einen Namen, die ‘rätselhafte Erscheinung’ wird dem ‘Wunderbaren entrückt’ (Westphal).

Die unmittelbaren Ziele: Identität/Identifizierung reichen zunächst als Motivation der definitorischen Anstrengungen aus. Die gemeinsame Entdeckung und Erforschung der mannmännlichen Anziehung scheint beide Seiten für eine kurze Zeit sogar zu verbinden. Die ‘Homosexuellen’ danken den Medizinern für ihr nachtseitiges Interesse, die Pathologen bekunden – bei aller Bekundung des Ekels und des Abscheus gegenüber dem Phänomen – Respekt vor ihren Informanten. Die Autobiographen schreiben mit einer emotionalen Unbefangenheit, die es ermöglicht, allzu schwergewichtige Kategorien wie die der Degeneration gänzlich zu negieren oder anders aufzufassen als sie gemeint sind. Die Pathologen teilen diese Haltung in einer theoretischen Unbefangenheit, experimentieren mit vorläufigen Interpretationen und wähnen sich als ‘Sachverständige’. Doch ihr Nahverhältnis zum Perversen konzentriert sich auf dessen minutiöse Biographisierung, ohne den Zugriff auf dessen Identität zunächst über die tradierte moralische Ächtung und die juristische Verfolgung auszuweiten.

Auch dort, wo die autobiographischen Selbstbeschreibungen deutlich mit forensischen und medizinischen Maßstäben konfrontiert werden, halten die Betroffenen an einer – aus heutiger Sicht zunächst überraschenden – Sorglosigkeit gegenüber der Reichweite ihrer Selbstbeschreibungen fest. Graf ‘Cajus’ – der der Gerichtsmedizin unfreiwillig das erste Tagebuch eines mannmännlichen Liebhabers liefern mußte – resümiert seine Liebesgeschichten auch im Gespräch mit dem Gerichtsmediziner ‘mit der unbefangensten Offenheit’, so der deutsche Gerichtsmediziner Johann Ludwig Casper 1852. Karl Heinrich Ulrichs verteidigt die Prostitution des (‘heterosexuellen’) Dionings gegenüber dem Urning. Die Autobiographen der Krafft-Ebingschen ‘Psychopathia sexualis’ (ab 1886) vertrauen den Ärzten ihre dunkelsten Geheimnisse an, sehen sich aber dennoch als gleichberechtigte Diskussionspartner.

Eine Interpretation der sexualpathologischen Klassifikationen als hierarchisches Wissen, das den Betroffenen ‘von außen’ aufgezwängt wird, erweist sich für das 19.Jahrhundert als falsch. Die Ulrichsche Sexualitätstheorie steckt den Diskussionsrahmen für die Pathologen ab. Zurecht konstatieren die Autobiographen, daß ihre Selbstverständigungen die wissenschaftliche Profilierung einer ‘homosexuellen Identität’ maßgeblich prägen – und vernachlässigen dabei die Frage, ob ihnen damit gedient ist. Ihre vordergründigen Ziele werden eingelöst. Sie geben ihren eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen eine feste Struktur, die in dem Wechselverhältnis Pathologie/Erfahrung die Form einer ‘sexuellen Identität’ annimmt – eine Matrix, die scheinbar alle Differenzgefühle gegenüber anderen aufzunehmen vermag. Die ‘sexuelle Identität’ ist eine Konstruktion, ein Faß ohne Boden, eine Fiktion, aber sie funktioniert.

In der Formel vom ‘dritten Geschlecht’ bekommt sie ein deutliches Profil. Aus heutiger Sicht erscheint das dritte Geschlecht (zurecht) exotisch und museal, aber strukturell wird die Diskussion der Sexualität und der Homosexualität auch heute von den Fiktionen eines basalen Geschlechterdualismus und eines biologischen Kerns geleitet. Ulrichs und die Autobiographen reagieren auf Grundüberzeugungen ihrer Zeit: Sie entsprechen weder der historischen Definition des Männlichen noch der des Weiblichen, besitzen also eine besondere ‘sexuelle Identität’ und bilden – wie manche meinen – ein drittes Geschlecht. Sie betrachten ‘Sexualität’ als Naturphänomen, suchen und finden ihr Heil also in biologistischen Spekulationen. Das Zwischengeschlecht entlastet vom Vorwurf der ‘Unnatur’ und ermöglicht eine positive Zuordnung zu einem (konstruierten) Geschlecht anstelle einer doppelten Negation: nicht männlich, nicht weiblich.

Aus der Sicht der Autobiographen übernehmen die Pathologen diese Entlastung. In diesem Sinn ist die Theorie des dritten Geschlechts kein Unglück, kein Versehen der Geschichte, sondern eine historisch bedingte und für ihre Zeit durchaus adäquate Formel der Selbstverständigung. Sie spiegelt, wenn auch in selektiver Vergrößerung, eine soziale, vor allem städtische Praxis, wo die Feminisierung als Rolle von manchen mannmännlichen Liebhaber benutzt wird und als auffälliger Code die Urnings-Kultur prägt. Der Umgang der Autobiographen mit dem pathologischen oder emanzipatorischen Profil ihrer ‘sexuellen Identität’ ist durch eine experimentelle Nonchalance gekennzeichnet: Nicht dogmatisch, sondern pragmatisch, nicht defensiv, sondern selbstbewußt, nicht objektiv, sondern (oft) hemmungslos subjektiv. Die Psychiatrisierung der mannmännlichen Anziehung wird zwar konstatiert, partiell auch internalisiert, aber erscheint nicht als ‘letztes Wort’. Die Betroffenen unterschätzen deren gesellschaftliche Reichweite, doch ihre Unbefangenheit und ihr Selbstbewußtsein ermöglichen es, daß die Kraftt-Ebingsche ‘Psychopathia sexualis’ als Medium ihrer Selbstverständigung zweckentfremdet wird.

TECHNIK UND SEX
Die diskursive Einbindung der Sexualität in eine ‘Wissenschaft des sexuellen Menschen’ korrespondierte mit der Verwissenschaftlichung anderer Lebenswelten und deren Konstitution zu eigenständigen Wissenschaften: der Kriminologie, der Ethnologie, der Psychiatrie. Als ein Träger der Rationalisierungsprozesse im 19.Jahrhundert übernahm Wissenschaft dabei zunehmend die dominante Rolle bei der Ausbildung von Normen und legitimierte ihren Geltungsanspruch gegenüber der Autorität kultureller Traditionen und besonders der theologischen Dogmatik in einem positivistisch gefaßten Begriff von Rationalität. Die faktischen Erfolge der Naturwissenschaften im 19.Jahrhundert, besonders in der Medizin und der Biologie, paßten sich als greifbare Resultate in die Wissenschaftstheorie des Positivismus ein.

Der ‘wissenschaftliche Fortschritt’ wurde als Legitimation der modernen Wissenschaft eingesetzt. Eine kritische Reflektion des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses wurde abgeschnitten oder auf die beiden positivistischen Grundformeln – die ’empirische Nähe zum Gegenstand’ und die Forderung nach intersubjektiv kontrollierbaren und einheitlichen methodischen Regeln – eingeschränkt. Die Möglichkeit gezielten Eingreifens in die untersuchte Wirklichkeit aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse begleitete und motivierte das szientistische Selbstverständnis. Es ging nicht um das ‘bloße Wissen auf dem Papier’, sondern letztlich dessen Umsetzung in Techniken der Kontrolle (Erziehung, Prophylaxe, Therapie).

Die Sexualpathologie, ein später Bastard in den positivistischen Wissenschaften vom Menschen, partizipierte an dieser Phantasie. Die dem Homosexualitätsdiskurs vorangegangenen Debatten über Onanie und Prostitution hatten gezeigt, daß das ‘sexuelle Wissen’ in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen (Schule, Familie, Stadt, Militär) als Ordnungs-Wissen eingesetzt werden konnte. Aus sexualpathologischer Sicht bezeichnete die zweite Hälfte des 19.Jahrhunderts eine Übergangszeit: Der Aufbau des neuen sexuellen Wissens war noch von der Kooperation der ‘Perversen’ abhängig, das Terrain menschlicher Leidenschaften noch zu unerschlossen, um ein strukturiertes Eingreifen zu ermöglichen. Die Umsetzung der Sexualitätsraster in geschmeidige Techniken der Kontrolle, Prophylaxe und Therapie wurde zwar als Ziel proklamiert, aber lange nicht eingelöst. Gemessen an der wissenschaftlichen Seriösität, die sich die Ätiologien zueignen konnten, haftete den Therapien (Hypnose, Bordellbesuch, moralische Ratschläge) der Geruch des Amateuristischen an. Daß sich das sexualpathologische Wissen in einem (potentiellen) Machtverhältnis entwickelte, manifestierte sich deutlich im forensischen Diskurs, doch übernahmen die Gutachter partiell alte Hierarchien: die zwischen dem Päderasten und der Gerichtsmedizin.

Das Verlangen nach dem Aufbau einer Identität und das Interesse an der Identifizierung abweichender Subjekte war immer gänzlich anders motiviert, aber für eine ‘Experimentierphase’ aufeinander angewiesen gewesen. Nach der Jahrhundertwende zerbrach der Schein der Gemeinsamkeit. Die Pathologen konnten nicht nur die soziale Autorität beanspruchen, sondern verfügten auch über genügend Wissen, um diese effektiver zu gestalten. Ihre ‘Macht’, die sich bis dahin weitgehend auf eine plastische Präsenz im Gerichtssaal beschränkt hatte, intensivierte sich mit der Popularisierung ihrer Kategorien. Sie und nicht die (‘durch ihre Subjektivität behinderten’) Betroffenen wurden die Experten der mannmännlichen Liebe. Ihre Identizierungsmethoden gaben mehr und mehr die großen Linien für den Prozeß der ‘homosexuellen’ Selbstverständigung vor, direkt in groß angelegten statistischen Untersuchungen und Fragebögen, indirekt durch die Gleichschaltung des Wissens über die Männerliebe in anderen Diskursen. Im juristischen wie politischen Diskurs, in der Literatur wie in den Massenmedien wurde die Sexualwissenschaft als Autorität in Sachen Sex akzeptiert, bestimmten ihre Kategorien das Verständnis der ‘Homosexualität’. Nicht die Homosexuellen gaben den Ärzten Aufschluß über ihr Leben, sondern die Pathologen erklärten den Homosexuellen, wie sie waren und warum. Mit der Verkehrung der Rollen wurde deutlicher, daß es nicht um ein bloßes Wissen ging, sondern dessen Anwendung.

In diesem Sinn ist das 19.Jahrhundert keinesfalls das ‘dunkle Zeitalter’, sondern bereitet dieses vor. Die Techniken, die sich im Umkreis des medizinischen Wissens in schneller Folge entfalteten, konnten sich nachhaltig stützen auf den Wechsel von der perversen Tat zur perversen Identität; sie imaginierten potentiell alle Lebensäußerungen des Perversen als Ansatzpunkt eines therapeutischen Eingriffs. Während sich die Problematisierung des Päderasten auf dessen Tat beschränkte, hefteten sich die Schuldgefühle des Homosexuellen an seine ganze Identität – seine Gefühle wie Träume, Handlungen wie Erinnerungen.

Die hardcore-Therapien des 20.Jahrhunderts gingen weit über das soziale Unrecht gegenüber dem Päderasten des 19.Jahrhunderts hinaus. Der Homosexuelle wurde nicht nur juristisch anfälliger und damit häufiger verurteilt (die Zahl der Verfahren wegen §175 stieg seit 1870 nahezu koninuierlich), sondern wurde auch zur Zielscheibe gnadenloser Korrekturmaßnahmen. Eine medizinisch legitimierte Folter (Elektroschocks, Gehirnoperationen, Kastrationen) korrespondierte mit psychiatrischen und psychoanalytischen Therapien, die auf die Vernichtung der ‘homosexuellen Identität’ zielten, um an ihre Stelle eine ‘normale’ zu setzen: ‘Sexualität’ als Operationsfeld technischer Eingriffe. Deren Reichweite wurden selten durch eine kritische Reflexion der eigenen Verantwortung beschränkt, sondern durch die Grenzen, die der politische Diskurs stellte.

Als in den vierziger und fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts solche Grenzen aufgegeben wurden, eröffnete sich den Sexualwissenschaftlern ein bisher unbekanntes Experimentierfeld für die praktische Überprüfung ihrer Thesen. Die soziale Gewalt, die sich mit der wissenschaftlichen Erforschung des ‘sexuellen Menschen’ verbinden sollte, war im 19.Jahrhundert nicht voraussehbar. Die Betroffenen gaben sich in ihrer Selbstdarstellung mit einer Unschuld und Ahnungslosigkeit preis, deren gefährliche Folgen erst mit der Vernetzung der ‘Intimdaten’ in flexiblen sozialen Kontrollsystemen sichtbar wurde.

Der Sexualpathologe war von Beginn an ein ‘kalter Freund’, ein Technokrat des Sexes, der die Autobiographien als Material seiner Technographie des Sexes brauchte: Schriften, die sich in seiner Lektüre in Anweisungen für eine Kontrolle des Sexes verwandelten. Die politische Unbefangenheit der Autobiographen und die Ulrichs basierte auch auf einem allgemeinen liberalen Desinteresse an einer Regulierung der Sexualität. Trotz moralischer Feldzüge etablierte sich erst um die Jahrhundertwende ein komplexes sexuelles System, das Prostitution, außereheliche Schwangerschaft (mit ihr: weibliche Sexualität) und die Perversionen in erster Instanz nicht ausgrenzte, sondern politisch, moralisch und medizinisch rigide eingrenzte. Die sexuelle Hygiene wurde zum Zielpunkt konkreter Maßnahmen und Kontrolltechniken in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern, die sich an der juristischen Verschärfung gegenüber den diversen Formen der Unzucht orientierten.

DIE BIOGRAPHISCHE PROTHESE
Die ‘homosexuelle Identität’ ist in der Untersuchung als historische Konstruktion deutlich geworden, die auf verschiedene Problembestände (bei den Betroffenen, bei den Beobachtern) zurückgeführt werden konnte. Seit der Geburtsstunde der ‘homosexuellen Identität’ arbeiteten die sie beschreibenden Texte mit Kompromissen, Halbwahrheiten und Ausblendungen, um sie zusammenzuhalten. Unter ihrem Wappen tauchten die verschiedensten Gestalten auf, über deren Verbindungen und Gemeinsamkeiten sich nur noch spekulieren läßt. Die Brüche in den (autobiographischen) Identitätsentwürfen und in den (medizinischen/emanzipatorischen) Identifizierungen sind im Laufe dieser Untersuchung vielfach besprochen worden.

Die heutige, kritische Analyse der ‘homosexuellen Identität’ wiederholt im Prinzip jedoch nur einen Verdacht, der von Beginn an laut und unmißverständlich ausgesprochen wurde. Weder die Gerichtsmediziner noch die ‘Gemeinschaft der Eigenen’, weder die Psychoanalytiker noch die Gerichtspsychiater schenkten der autobiographisch-medizinischen Beschreibung der ‘homosexuellen Lebensgeschichte’ viel Glauben, wenn auch mit unterschiedlichem Einsatz und mitunter nur als Lippenbekenntnis. Sie analysierten die Biographien als strategische Texte mit geringem Wahrheitsgehalt.

Trotz ihrer detaillierten und oft zutreffenden Kritik an den indirekten Schreibanweisungen (durch die ‘Psychopathia sexualis’) oder der Verwissenschaftlichung des gleichgeschlechtlichen Gefühls stießen sie auf erstaunlich wenig Resonanz und konnten die Konstruktion der Homosexualität nie ernsthaft gefährden. Die meisten Beteiligten des Diskurses zogen klare Fronten vor, der ‘Homo’ setzte sich als Identität mit voraussehbaren Identitätsproblemen durch. Schon nach der Jahrhundertwende und dann in den zwanziger Jahren konnte die Diskussion des ‘Homosexuellen’ mit wenigen Anspielungen (Zitaten) ihren Gegenstand evozieren: eine Tendenz, die den Homosexualitätsdiskurs bis heute prägt.

Es kann deshalb kaum genügen, auf die nicht übersehbare Stereotypie des Diskurses hinzuweisen: Diese entsprach einer konkreten und scheinbar konstanten Bedürfnislage. Die entscheidende Frage ist: Welche Bedürfnisse wurden mit einem, durch Stereotypen geleiteten Diskurs bei den Betroffenen selbst eingelöst? Die Diskussion der ‘homosexuellen Identität’ entwickelt sich damit unweigerlich zu einer Beurteilung ihres strategischen Wertes – den sie damals gehabt hat (für wen, in welcher Form, für wie lange) und den sie heute hat. Die Analyse thematisiert die ‘homosexuelle Identität’ als biographische Prothese (die in gewissem Sinn natürlich jede Identität ist).

Der Begriff der ‘biographischen Prothese’ spitzt die Geschichten, die wir uns selbst erzählen, auf deren pragmatische, strategische Funktion zu (ohne damit ihren Wert zu beurteilen): Die Biographisierung des eigenen Lebens, die in jeder Selbstverständigung vollzogen wird, geschieht nicht jenseits des jeweiligen Zeitpunktes und der spezifischen Interessenlage, in der sich das Subjekt – als Biograph – befindet.

Das Denken über uns selbst gehorcht einer selektiven Wahrnehmung und Erinnerung. Jede Autobiographie stellt insofern ein Hilfsmittel dar, das ein vergangenes Leben resümiert, um ein zukünftiges besser zu gestalten – eine Prothese, die in dieses zukünftige Leben eingepaßt wird und dort für Halt, Orientierung und Bewegungsfreiheit sorgen soll. Die biographische Prothese wäre in diesem Sinne der Entwurf eines Selbstbildes, in dem die eigenen Gefühle integriert werden könnten, dieses aber gleichzeitig für die ‘Außenwelt’ verständlich bleibt und in dieser eine gewisse Bewegungsfreiheit eröffnet. Die analysierten historischen Autobiographien zielten auf eine machbare (lebbare) Identität und ignorierten bewußt oder unbewußt Erfahrungen, die sich nicht in diese Identität integrieren ließen.

Das Coming Out, als eines der stereotypen Konstanten im Diskurs über Homosexualität, kann als eine solche erfolgreiche und zugleich sehr selektiv arbeitende biographische Prothese interpretiert werden. Die (sexuellen) Differenzgefühle, die der Betroffene gegenüber seiner Umwelt empfunden hat, werden nach einem oft langwierigen Prozeß als Basis einer neuen machbaren Identität akzeptiert, die der Außenwelt verständlich ist und mit der Initiation in die kollektive homosexuelle Welt neue Spielräume öffnet. Das Coming Out funktioniert dabei wie alle Initiationsrituale: Die Schwere der Prüfung wird durch die Aufnahme in die Gemeinschaft kompensiert, die den Prüfling als Teil ihrer Gemeinschaft anerkennt, weil er die kollektiven Stationen, wie alle, durchlaufen hat. Damit verfügt das neue Mitglied auch über eine eindeutige Rolle gegenüber der feindlichen ‘Außenwelt’.

Das Coming Out, als radikale Form der Biographisierung, egalisiert jene individuellen Unterschiede, die die Aufnahme in die Gemeinschaft und die Rolle gegenüber der Außenwelt gefährden könnten. Vor dem Coming Out werden alle ‘Homosexuellen’ gleich. Im Prinzip müssen sie weder der Gemeinschaft noch der Außenwelt ihre individuelle Geschichte zu Ende beichten, weil diese ‘als Coming Out’ über und über bekannt ist.

Das Coming Out hat sich als Folge des historischen medizinisch-autobiographischen Diskurses als entscheidende Schaltstelle der ‘homosexuellen Identität’ durchgesetzt. Es verbindet beide Parteien, stellt ein für alle Beteiligten deutliches Identifikationsverfahren vor und hat insofern in ihrem Wert als biographische Prothese kaum etwas an pragmatischer Überzeugungskraft eingebüßt.

Die homosexuelle Identität entstand aus dem Bedürfnis nach mehr Bewegungsraum, nach der Möglichkeit, die eigenen Gefühle zu artikulieren, zu diskutieren, mit anderen zu vergleichen. Das Coming Out übersetzte dieses Bedürfnis in eine biographische Prothese, die mit der selektiven Vergewisserung einer Vergangenheit ein zukünftiges homosexuelles Leben ermöglichte. Doch die komprimierte Kurz-Biographie gewährleistete in erster Instanz ein Verfahren der Selbstakzeptanz, ohne Anleitungen für das Leben nach der Initiation zu entwickeln.

Die konstruktivistische Kritik an der ‘homosexuellen Identität’ knüpft an eine vertraute Bedürfnislage an. In ihr äußert sich das Unbehagen, das sich gegenüber den ritualisierten Anteilen dieser Identität bzw. ihrem Beitrag an der stereotypen Ordnung des Sexes angestaut hat. Wiederum zielt die Reflektion auf ein Mehr an Bewegungsfreiheit, die Einnahme einer Distanz gegenüber dem eigenen Leben. Die Problematisierung der eigenen Identität wird in der konstruktivistischen Kritik nicht mehr in einem normativen Kader vollzogen, sondern als Spiel der Möglichkeiten begriffen. Sie knüpft dabei auch an die historische Problematisierung der Männerliebe an, in der nicht nur auf eine unheilvolle Distanz, eine Entfremdung gegenüber den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen reagiert wurde, sondern die Theoretisierung/Selbstverständigung mit einer Intensivierung des Selbstgefühls einherging. Karl Heinrich Ulrichs scheint in einer Formulierung – abstrahiert man von der historischen Sprachform – auf dieses ambivalente Motiv von Entfremdung und Distanz verwiesen zu haben. “Im Sinne der Wissenschaft dagegen ist unsere Spärlichkeit ein Vorteil, da sie uns zwingt zu naturwissenschaftlichen Darlegungen unsrer Natur und zu philosophischen Nachweisen über unser moralisches und soziales Recht.” (Ulrichs 1898) Seine Schriften entfalten mehr als das Szenario eines einsamen, vergeblichen Kampfes um Gerechtigkeit. Sie genießen zugleich das Recht und die Zeit der reflektierten Selbstbetrachtung.

Gemessen an traditionellen Identitäten, die ihr Selbstverständnis an religiöse oder nationale Werte binden, haben sich die modernen ‘abweichenden’ Identitäten, die das sexuelle Verlangen (Homosexuelle, Lesben) oder das Geschlecht (Frau) als Ansatz ihrer Identitätsbildung nehmen, weitgehend stabilisiert. Sie vereinen den ‘service’ traditioneller Identitäten (Gruppenzugehörigkeit, feste Hierarchie der Werte, Sicherheit) mit einer experimentellen Potenz und Offenheit. Vor allem der städtische Lebensraum erhält durch diese Verbindung gleichermaßen eine übersichtliche, ‘bequeme’ Ordnung (Treffpunkte, ein funktionierender Code der Eingeweihten, eine vertraute Sub-Kultur) und die Möglichkeit zur Entwicklung neuer Lebensformen. Aus einer Interpretation der ‘homosexuellen Identität’ als Ausdruck eines Bedürfnisses nach mehr Bewegungsraum kann auch ein lange Zeit geltendes emanzipatorisches und gesellschaftliches Mißverständnis schärfer bestimmt werden.

Die Forderung nach gesellschaftlicher Akzeptanz zielt nicht auf gesellschaftliche Integration, sondern das Recht, eine Kultur des friedlichen Nebeneinander einzuleiten. Die ‘biographische Prothese’ ist keine Krücke für heterosoziale, sondern ein Mittel für die Ausbildung und Kultivierung homosozialer Lebensformen.

‘ABER IN MEINEM HERZEN SPRACH EINE STIMME SO LAUT’
Jede Untersuchung, die sich mit der Genese ‘sexuellen Wissens’ oder generell ‘Sexualität’ kritisch auseinandersetzen will, wird mit dem Problem konfrontiert, daß sie über keine andere Sprache verfügt als jene, um die es – als den eigentlichen Gegenstand ihrer Analyse – erst gehen soll. Die Normierung der Sprache wiederholt sich in ihrer Analyse. Weder Anführungstriche noch eine Metasprache können hier eine sichere und konstante Distanz zwischen dem Gegenstand und seiner Beschreibung schaffen. In der historischen Sprache über Sexualität, die das Erbe der Sexualpathologie bezeichnet, sind Grundanschauungen festgeschrieben, die sich nur in einem gänzlich anderen Verständnis dessen, was wir als ‘Sexualität’ verstehen, auflösen ließen.

Die Formierung der Sexualpathologie konnte sich nur vollziehen in der Unterstellung, daß der ‘Sex’ einen wissenschaftlichen Gegenstand darstellt, der – wie andere ‘Dinge’ – beobachtet, verglichen, gesammelt und beschrieben werden kann. Die Sexualpathologen sprachen als Mediziner und etikettierten das sexuelle Verhalten als eine funktionelle Tätigkeit, die wie andere Funktionen des menschlichen Körpers von außen beschrieben werden können.

Georges Bataille hat in seiner Kritik der Kinsey-Reporte, die diese Annahme radikalisierten, auf die Schwierigkeiten einer teilnahmslosen Sprache über Sexualität hingewiesen. “Die Erotik ist eine Erfahrung, die wir nicht wie eine Sache von außen bewerten können.” Die Subjekt/Objekt Trennung, auf der die Sexualpathologie so beharrte und die ihre Terminologie/unsere Sprache bestimmt, verschweigt die Betroffenheit und die Beteiligung des Beobachters. Dies zeigt sich nicht erst bei der Kinseyschen Beobachtung des sexuellen Aktes, sondern bereits in einer historischen (gleichwohl verdrängten) Erfahrung der Sexualpathologen: Das Wissen über ‘Sexualität’ kann sich nur in einem Nahverhältnis zum untersuchten Objekt bilden. In dem Wechselverhältnis zwischen den operativen Normen des Pathologen und der Selbsterfahrung des Perversen bildet sich das sexuelle Wissen. Der Pathologe kann die perverse Identität nicht ablesen wie die Eigenschaften eines Dinges. In der Beschreibung der ‘anderen Sexualität’ fungieren seine eigenen sexuellen Grundanschauungen als Matrix.

Die Thematisierung der ‘Sexualität’ kann erregen, Widerstände oder nachdrückliches Schweigen hervorrufen, sie versetzt ihre Zeugen – wie Bataille sagt – leicht in den Zustand der Teilnahme. Die teilnahmslose Sprache der Sexualpathologie negiert das grundsätzlich intersubjektive Verhältnis der Teilnahme. Die sexuelle Terminologie basiert auf dem Ausschluß des Sprecher-Subjekts. Sie nimmt eine Verdinglichung des sexuellen Menschen vor und behauptet, aus neutralen Zeichen zu bestehen: Übersetzungen dessen, was ‘in der Natur vorgefunden und abgebildet wurde’.

In den sexuellen Kategorien drückt sich unsere Art und Weise aus, wie wir ‘Sexualität’ denken, empfinden, leben, was wir als ‘sexuell’ annehmen. Die Distanz zu diesen sexuellen Überzeugungen fällt schwer: Die Anthropologie, seit längerem mit diesem Problem vertraut, konfrontiert mit dem Wissen, daß andere Kulturen über gänzliche andere Konstruktionen des ‘Sexuellen’ verfügen, und zugleich mit dem Problem, daß wir das eigene sexuelle System letztlich doch als Decodierer anderer Lebensweisen brauchen.

Eine anthropologische Betrachtungsweise unserer eigenen sexuellen Kultur ermöglicht zwar – wie Randolph Trumbach 1989 erläuterte – die nötige Ablösung der psychologischen und soziologischen Analysemodelle der Sexualität. Die Anleihen des Historikers bei der psychologischen Unterscheidung von ‘Homosexualität’ und ‘Heterosexualität’ und der soziologischen Fixierung auf die Analyse von Subkultur, Identität und Rollenverständnis haben die Geschichtsschreibung der Sexualität bis jetzt entscheidend geprägt.

Beide Betrachtungsweisen sind an die Entwicklung der abendländischen, wissenschaftlichen Kultur seit 1700 gebunden und referieren bei ihrer Erfassung der Sexualität auf deren Vorgeschichte im 19.Jahrhundert. Nicht-westliche Kulturen können sie ebensowenig erfassen wie die sexuellen Kulturen in Europa vor dem 19.Jahrhundert. Doch auch wenn eine anthropologische Distanz den Blick auf die Konstruktionen des sexuellen Systems schärfen kann, bleibt dieser Blick an ein bereits sexuell identifiziertes Forscher-Subjekt gebunden.

Der Diskurs über Sexualität kennt in diesem Sinn kein Außen: keinen unbeteiligten Körper, keine Unschuld, die den Identifizierungen des Sexuellen entgangen wäre. Die Sprache über Sexualität kennt nur Beteiligte, deren sexuelles Leben und Denken über Sexualität jene Identifikationen austrägt, die sich in einer historischen Analyse als ‘Konstruktionen’ erweisen. Die Labilität einer Kategorie wie die der ‘Sexualität’ kann zwar konstatiert, aber nicht vermieden werden (Vance 1989). In diesem Sinn bleibt eine verschärfte Aufmerksamkeit für die Vorentscheidungen, die die Sprache über Sexualität enthält, die einzige Möglichkeit, diese anders zu denken und eventuell zu leben.

In dem stark polarisierenden Diskurs über Sexualität melden sich viele Stimmen an, die sich dem Subjekt aufdrängen, ihn unter Handlungszwänge setzen, Entscheidungen fordern. Das moderne, abendländische Verhältnis zum Sex ist vor allem ein sprachliches, es gönnt dem Subjekt wenig Raum für Ambivalenzen, ungeklärte und flüchtige Gefühle oder gar Desinteresse an der Definition seiner Sexualität. Es wäre illusionär, wenn man annehme, man könne sich diesen Stimmen entziehen. In dem autobiographischen Bekenntnis, aus dem der Titel dieser Arbeit entnommen wurde, scheint dieses Verhältnis exemplarisch zusammengefaßt. “/…/ aber in meinem Herzen sprache eine Stimme so laut, dass ich meinte, sie in meinem Zimmer zu hören: “Gehe nach den Linden!” Der Autor nimmt eine vorbildliche Haltung ein. Er identifiziert ‘die Stimme’ nicht gleich als seine ‘eigene’, schenkt ihr aber Gehör, weil sie sich nachdrücklich in seinem Inneren eingenistet hat, als wäre sie ‘in meinem Zimmer zu hören’. Er nimmt sie nicht zum Anlaß einer identitäts- und schuldbewußten Reflexion, sondern überprüft ihren praktischen Wert, indem er der ‘Stimme’ folgt. Bevor ihn die Moral wieder einholen kann, wandelt er längst im ‘Thiergarten’ und ‘vergißt’ sie zur Sicherheit.

“Selten oder nie hatte ich die innere Promenade betreten; es war vor achtundvierzig und die Beleuchtung wohl nicht so glänzend wie heute. Ich ging unbewusst und hatte die Worte längst vergessen. Nach einiger Zeit gesellte sich ein Herr zu mir; er sprach mir liebenswürdig zu, und wir gewannen den Thiergarten. Ich empfand ein wunderbar seliges Gefühl, als er mich an sich zog, mich leidenschaftlich küsste und endlich mich angriff und durch Onanie meine Natur befriedigte.”

Erst jetzt, nach der Erfahrung, entsinnt er sich anderer Stimmen, die ihn für einen Moment zu überwältigen scheinen, doch ihre Autorität in der seligen Erfahrung eingebüßt haben und mit wenigen Worten weiter entkräftet werden können. “Jetzt aber bemächtigte sich meiner eine wahre Verzweiflung, ich weinte vor Schaam, als sich der Fremde verwundert zu mir wandte: “Was gebehrden Sie sich so? das thun ja Hunderte!” Nie in meinem Leben habe ich je wieder, Gott vergebe es mir! ein so seliges Wort gehört, es war mir, als erwachte ich zu neuem Leben und ich wurde neu geboren!”(Casper/Liman 1881: 171.)

Die Möglichkeit, sich zu vergessen und zugleich eigene Gefühle zu entdecken, scheint eine jener paradoxen Seligkeiten zu sein, die in der Erforschung des sexuellen Menschen keinen Platz mehr beanspruchen dürfen, aber die Magie der Sexualität wie die sie umgebende Sorge verständlicher machen.

BIOGRAPHICAL REFERENCE ARTICLE
Klaus Mueller: Die historische Konstruktion des Homosexuellen und die Codierung der Geschlechterdifferenz. In: Das Geschlecht der Moderne. Hg. von Hannelore Bublitz. Frankfurt am Main, Campus 1998. [The historical construction of the homosexual and the codes of gender differentiation]